Johann Sebastian Bach | Die Kunst der Fuge | BWV 1080
Nicole Hostettler, Clavichord

 

 

   
 

 

Bestell-Nr. 2019
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Unterwegs zur Kunst der Fuge

Ein grosser Zyklus von Fugen über dasselbe Thema: Seit wann mag Johann Sebastian Bach darüber nachgesonnen haben? Um Licht in diese Frage zu bringen, müssen wir die Perspektive erweitern, uns der Vorläufer Bachs erinnern, ihre musikalischen und theoretischen Werke zu Rate ziehen – und schliesslich auf die Aussagen der Zeitgenossen zurückgreifen, die direkt oder indirekt mit ihm zu tun hatten.

Unter den Komponisten, deren Werke J.S. Bach studiert und geschätzt hat, wird Johann Jakob Froberger an erster Stelle genannt. Froberger bereist ganz Mittel- und Westeuropa, studiert bei Frescobaldi in Rom, macht sich gleichermassen bekannt in Paris, London und Dresden, wird Hoforganist in Wien. Seine Cembalostücke, im Autograph dem Kaiser Ferdinand III. gewidmet, gelangen durch zahlreiche Abschriften in Umlauf: So finden sich auch einige von ihnen in dem Manuskript mit Tastenmusik, das der Knabe Johann Sebastian heimlich beim Mondschein abschrieb. Das erste Ricercar des Libro quarto di toccate von 1656, wie die anderen dort enthaltenen kontrapunktischen Stücke in Partiturform auf vier Systemen notiert, beginnt mit einem chromatisch aufsteigenden Thema in d, dem sogleich sein absteigendes Spiegelbild antwortet.

Dieses Thema zitiert François Roberday in seinen 1660 gedruckten Fugues et Caprices à quatre parties. Roberday, wie sein Vater Goldschmied und Orgelliebhaber, studierte Musik und Golschmiedekunst gleichermassen. Im Vorwort zu den Fugues et Caprices weist er auf die Vorzüge der Partiturform hin: “par ce que les Parties estant toutes ensemble, et neantmoins distinguées les unes des autres, on peut bien plus facilement les examiner chaqu’une en particulier et voir le rapport qu'elles ont toutes entre-elles...”. Der junge Bach hat vielleicht dieses Vorwort nicht zu Gesicht bekommen, aber er hätte dem sicherlich zugestimmt, war er doch vertraut mit der deutschen Tabulaturnotation und der Tabulatura nova Samuel Scheidts.

Ein weiterer “alter guter französischer […] Favorit”, wie Carl Philip Emanuel Bach sich ausdrückte, war Jean Henry d’Anglebert, der Schwager François Roberdays. Sein erstes Buch der pièces de clavecin von 1689 enthält neben vier längeren Suiten Bearbeitungen von Werken Jean-Baptiste Lullys sowie fünf Fugen über dasselbe Thema in verschiedenen Sätzen, die er früher schon für Orgel gesetzt hatte, in der Art von Roberday, aber nur auf zwei Systemen notiert und mit extrem reichen Verzierungen. Die Tabelle d’Angleberts mit den Spielanweisungen für die Verzierungszeichen findet sich genau transkribiert neben der Abschrift von Werken Nicolas de Grignys und Charles François Dieuparts, die Johann Sebastian Bach für den eigenen Gebrauch angefertigt hatte. Bach wird die Fugen d’Angleberts in diesem Zusammenhang kennengelernt haben, ebenso das charmante Menuett aus der ersten Suite, das über denselben Bass komponiert ist wie der Beginn der Goldberg-Variationen.

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Während seiner Studien hat Bach immer wieder “starcke Fugisten” aufgesucht, so Georg Böhm in Lüneburg, Johann Adam Reincken in Hamburg, und vor allem Dietrich Buxtehude in Lübeck, zu dem er im November 1705 von Arnstadt aus zu Fuss reist, um erst vier Monate später wieder heimzukehren.

Meister des Fantastischen Stils, ist Buxtehude auch ein herausragender Komponist von Fugen und Choralpräludien. Nachfolger Franz Tunders an St. Marien in Lübeck, freundschaftlich eng mit Johann Adam Reincken verbunden, reist Buxtehude häufig nach Hamburg und besucht dort auch Matthias Weckmann und den Kantor Christoph Bernhard, Schüler und Mitarbeiter von Heinrich Schütz. Die kontrapunktischen Variationen über den Choral Mit Fried und Freud ich fahr dahin, 1671 für die Begräbnisfeierlichkeiten einer angesehenen Lübecker Persönlichkeit komponiert, tragen die Untertitel “contrapunctus” und “evolutio”. Mit der Verwendung dieser antiquierten Ausdrücke scheint Buxtehude seine Ehrfurcht Bernhard gegenüber zu bezeugen, der ein bedeutendes Traktat zum Kontrapunkt und ähnliche Variationen in Spiegelform herausgibt. Beim Ableben des eigenen Vaters im Jahre 1674 nimmt Buxtehude dieses Werk wieder auf und veröffentlicht es, zusammen mit einem Klag-Lied, unter dem Titel “Fried- und Freudenreiche Hinfahrt” (BuxWV 76). Dass Bach den Terminus “Contrapunctus” in seiner Kunst der Fuge wiederverwendet, könnte seinerseits eine Reverenz an Buxtehude sein.

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Theodor Leberecht Pitschel, Doktorand an der Universität Leipzig, schreibt im Jahr 1741 zum Verhältnis Bachs zu seinen Vorgängern: “Sie wissen, der berühmte Mann, welcher in unserer Stadt das größte Lob der Musik, und die Bewunderung der Kenner hat, kömmt, wie man saget, nicht eher in den Stand, durch die Vermischung seiner Töne andere in Entzückung zu versetzen, als bis er etwas vom Blatte gespielt, und seine Einbildungskraft in Bewegung gesetzt hat.”

Aber es ist vor allem Carl Philipp Emanuel Bach, der einen wesentlichen Hinweis zum Verständnis der musikalischen Persönlichkeit seines Vaters liefert: “Der seelige hat durch eigene Zusätze seinen Geschmack gebildet. […] Blos eigenes Nachsinnen hat ihn schon in seiner Jugend zum reinen und starcken Fugisten gemacht.” Dazu gibt die vor 1713 entstandene Fuge für Orgel in g-moll BWV 578 ein schönes Beispiel: Ihr Thema dient später in überarbeiteter Gestalt dem grossen Projekt der Kunst der Fuge.

Dieses Zitat C.P.E. Bachs findet sich in einem Brief an Forkel vom 13. Januar 1775. Johann Nikolaus Forkel (1749–1818) erwirbt seine musiktheoretischen Kenntnisse autodidaktisch. Während seiner Studien in Göttingen versieht er zunächst das Amt eines Organisten, hält dann Vorlesungen zur Theorie der Musik und wird schliesslich akademischer Musikdirektor an der Universität. Das Werk J.S. Bachs fasziniert ihn. Sein Quellenmaterial für eine (erst 1802 erschienene) Biographie des Komponisten ergänzt er durch die Berichte der beiden ältesten Söhne Bachs.

So lädt er 1773 Wilhelm Friedemann nach Göttingen ein, um von ihm die Art des Anschlags insbesondere des Clavichords zu erlernen, die Bach seinem Sohn beigebracht hatte. Er beschreibt sie sehr genau im dritten Kapitel seiner Biographie. Forkel gibt diese Spielweise an Friedrich Konrad Griepenkerl weiter, der sie in der Vorrede zu seiner 1819 erschienenen Neuausgabe der Chromatischen Fantasie und Fuge d-moll BWV 903 darlegt. Im selben Jahr gibt Griepenkerl auch die Polonaisen Wilhelm Friedemanns heraus und erinnert im Vorwort daran, “dass W.F. Bach Forkeln in Göttingen besuchte […] und ein paar Monate sich bei ihm aufhielt. Forkels Begeisterung für ächte Kunst, und besonders für Bachische Kunst, machte, dass er in den wenigen Wochen mehr von Friedemann lernte, als jemals ein anderer in so kurzer Zeit, was er auch gern und oft erzählte mit glänzenden Augen und liebenswürdiger Bescheidenheit.”

In seinen Briefen an Forkel zeigt sich Carl Philip Emanuel äusserst liebenswürdig und grosszügig. So schickt er ihm zahlreiche Kompositionen und ein in Kupfer gestochenes Porträt J.S. Bachs: “Meines seeligen Vaters Bildniß kostet nichts. […] Von meines seeligen Vaters Kupfersachen sind keine Exemplare mehr zu haben; auch die Platten sind nicht mehr da” (9. August 1774). Forkel muss gleichwohl Zugang zum 1752 erschienenen Druck der Kunst der Fuge gehabt haben, da er Marpurgs Vorwort in seiner Werkbeschreibung erwähnt. Im sechsten Kapitel der Biographie analysiert er auf feine Art die Kompositionsweise J.S. Bachs: “Bey der Vereinigung mehrerer zugleich mit einander fortlaufenden Melodien, welche sämmtlich singbar seyn sollen, kann keine einzelne so hervorstechend seyn, daß sie die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf sich allein ziehen könnte. Dieses Hervorstechende müssen sie hier gleichsam mit einander theilen, so daß bald die eine, bald die andere vorzüglich glänzen kann, deren Glanz aber dennoch von den neben ihnen herlaufenden, ebenfalls singenden Stimmen vermindert zu werden scheint, weil die Aufmerksamkeit des Zuhörers dadurch getheilt wird. Ich sage, vermindert zu werden scheint: denn im Grunde wird er nicht vermindert, sondern vielmehr erhöht, wenn der Zuhörer Übung genug hat, das Ganze auf einmal übersehen und fassen zu können.”

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Die Kunst der Fuge, Höhepunkt von Bachs kontrapunktischem Schaffen, hat eine längere Entstehungsgeschichte. Die autographe Frühfassung in Partiturform auf vier Notensystemen, begonnen um 1742, enthält zehn Fugen, darunter die Doppel- und Tripelfugen, und zwei Kanons: den alla Ottava und den per Augmentationem in Contrario Motu , der den Zyklus abschliessen sollte. Dazu gesellen sich später zwei Spiegelfugen, die jeweils mit umgekehrten Intervallen wiederholt werden, und eine neue Version des letzten Kanons. Nachdem er die vier Teile der Clavierübung, das Musikalische Opfer und die Canonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch hat drucken lassen, arbeitet Bach an der Herausgabe der Kunst der Fuge . Dabei ergänzt er die Gruppe der Fugen durch den Contrapunctus IV und führt – aus Symmetriegründen – noch zwei neue Kanons ein. Aber sein Augenlicht lässt nach und die Arbeit gerät ins Stocken, trotz der Hilfe seines Sohnes Johann Christoph Friedrich und möglicherweise auch des Jüngsten, Johann Christian. Für den Contrapunctus XIV (14 ist die numerologische Summe der Buchstaben seines Namens) hat Bach sechs Seiten reserviert, doch bleibt diese Fuge unvollendet, auf zwei Systemen, mit der musikalischen Signatur B-A-C-H als drittes Thema. Die Kunst der Fuge wird 1751 und 1752 postum veröffentlicht, wobei die ursprüngliche Folge der einzelnen Stücke abgeändert und ein Choral hinzugefügt werden. Johann Mattheson kündigt das Ereignis an als “Joh. Sebast. Bachs so genannte Kunst der Fuge, ein praktisches und prächtiges Werk”.

Auf dem Clavichord ist es möglich, sich diesem Werk gleichzeitig umfassend und intim anzunähern, die Schönheit seiner melodischen Linien und seiner architektonischen Struktur unaufdringlich wie mit einem subtilen Licht zur Geltung zu bringen.

Nicole Hostettler ( Übersetzung: Thomas Steiner)

Nicole Hostettler

Nicole Hostettler hat am Konservatorium in Lausanne Klavier, Orgel (bei André Mercier) und Cembalo (bei Christiane Jaccottet) studiert. Anschliessend vertiefte sie ihre Ausbildung bei Johann Sonnleitner und Gustav Leonhardt. Ihre Kenntnis der historischen Tasteninstrumente erweiterte sie durch das Studium des Pianoforte und besonders des Clavichords, das sie derzeit im Rahmen der Hochschule für Musik in Genf unterrichtet.

Als Continuospielerin ist sie mit zahlreichen Ensembles für Alte Musik aufgetreten. Von den grösseren Solo-Werken J.S. Bachs für Tasteninstrumente hat sie die Goldberg-Variationen, die Concerti, das Wohltemperierte Klavier II und die Kunst der Fuge im Konzert vorgestellt.

Mit dem Pianisten Pierre Goy bildet Nicole Hostettler ein Duo für historische Tasteninstrumente, das mit zwei Pianoforti, zwei Clavichorden, zwei Orgeln oder auch Cembalo und Pianoforte konzertiert. Das Duo hat Johann Gottfried Müthels Werke für ein und für zwei Clavichorde eingespielt (cantando 2016) und die Werke für zwei Tasteninstrumente von Armand-Louis Couperin mit dem Pianoforte von Pascal Taskin 1788 und dem Cembalo Ruckers/Taskin 1646/1780 des Musée de la Musique in Paris aufgenommen (Lyrinx 2262).

Das Clavichord nach Hubert 1772

Vorbild für das bundfreie, zweichörige Clavichord dieser Auf­nahme ist ein 1772 datiertes Instrument von Christian Gottlob Hubert, heute in der Neumeyer-Sammlung his­torischer Tasteninstrumente in Bad Kro­zingen (Deutschland). Es wurde 1993 von Thomas Steiner in Basel (Schweiz) gebaut.

Christian Gottlob Hubert wurde 1714 in Fraustadt (Polen; heute Wschowa) ge­boren. 1740 begab er sich als Hof-Orgel- ­und Instrumentenmacher im Dienste des Markgrafen nach Bayreuth. 1769 folgte er der Hofkapelle nach Ansbach, wo er bis ins hohe Alter tätig blieb. Der Historiker Johannes Georg Meusel schreibt 1786 in seinen Miscellaneen artistischen Inhalts: „Ein aufmerksamer Reisender darf haupt­sächlich, wenn er nach Anspach kommt, den berühmten Instrumentenmacher Hubert nicht vorbeygehen. Er ist sowol durch seine guten dauerhaften, mit dem schönsten Wohlklang versehenen Klaviere [d.h. Clavichorde] und Fortepiano be­rühmt, deren er immer verschiedene von besonderer Einrichtung und dem künstlich­sten Bau in der Arbeit […] hat, als durch andere musikalische Instrumente […] in aus­gebreitetem Rufe […] Er ist ein sehr kleiner Mann von stillem und edlem Charakter, dabey etwas hitzig und eigensinnig und in seinen Arbeiten ausserordentlich accurat und pünktlich". Hubert starb 1793 in Ansbach.

Die neunzehn heute Hubert zugeschrie­benen Clavichorde belegen, wie sehr Meusels Einschätzung berechtigt war. Drei der Instrumente – datiert 1771, 1772 und 177(9) – sind bundfrei (jede Taste hat ihr eigenes Saitenpaar). In den schmalen Ge­häusen liegen die Saiten dicht beieinander. Die relativ kurzen Tasten variieren wenig in der Länge, und die Tangenten berühren die Saiten nahe beim Anhang. Das ergibt einen gut kontrollierbaren Anschlag, der es erlaubt, feinste dynamische und klangliche Schattierungen zu gestalten.

Thomas Steiner

Stimmung: “Wohltemperirte” Stimmung von Johann Sebastian Bach nach Billeter (2007), a’ = 415 Hz

 

 

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